Abstract zu Heft 4:

Intellektuellen-Status und intellektuelle Kontroversen im Kontext der Wiedervereinigung

Autoren: Wolfgang Emmerich / Lothar Probst

November 1993

Materialien und Ergebnisse aus Forschungsprojekten des Institutes

Vorbemerkung

Nicht nur die beiden Gesellschaften, sondern auch die Intellektuellen aus Ost- und Westdeutschland befinden sich nach der Wiedervereinigung in einem Prozeß des Umbruchs und der Umgruppierung. Vor diesem Hintergrund beleuchten die beiden Beiträge von Wolfgang Emmerich und Lothar Probst in Heft 4 der Reihe „Materialien und Ergebnisse aus Forschungsprojekten des Institutes“ Statusveränderungen und Kontroversen intellektueller Formationen in Deutschland.

Für die auch im Westen als Sprecher wahrgenommene literarische Intelligenz aus der DDR hat in mehrfacher Weise ein schmerzhafter Verlust ihres privilegierten Status stattgefunden: Sie sind von ihrer „sozialpädagogischen“ Aufgabe entbunden worden, sie sind nicht länger als Träger einer auf „Textolatrie“ (Vilem Flusser) fixierten politischen Kultur gefragt, und sie haben ihre Rolle als von der politischen Führung auserkorene „konzeptionelle Vorhut“ (Wolfgang Emmerich) verloren. Die damit verbundenen Ent-Täuschungen werden zum Teil mit „Melancholie“ verarbeitet. Wolfgang Emmerich führt die Hypertrophie der Intellektuellenrolle in der DDR aber nicht nur auf die Besonderheiten der zweiten deutschen Diktatur zurück, sondern stellt sie in den Zusammenhang mit den Schieflagen und Hypotheken des Zivilisationsprozesses in Deutschland. „Nirgendwo sonst“, so Wolfgang Emmerich, „machten sich Intellektuelle so allumfassend zu angemaßten Stellvertreter-Subjekten … wie in 200 Jahren deutscher Intellektuellengeschichte“.

Daß auch ein Teil der westdeutschen Intellektuellen ihre Geschichte im Kontext der Wiedervereinigung aufarbeiten und sich neu orientieren muß, macht Lothar Probst zum Gegenstand seines Essays. Er analysiert Kontroversen unter Intellektuellen über die gegenwärtige deutsche Politik und geht der Frage nach, welche Mythen über die richtigen Lehren aus der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus, die sich nach 1949 in beiden deutschen Staaten entwickelt haben, in der gegenwärtigen Diskussion über die Zukunft des vereinten Deutschlands weiterwirken und sich mit neuen Legendenbildungen vermischen. Dabei hinterfragt er u.a. das „Tabu des Vergleichens“ zwischen der ersten und zweiten deutschen Diktatur und widerspricht der gängigen Behauptung, daß die aktuelle Diskussion über die totalitären Züge der DDR einer Entsorgung der nationalsozialistischen Vergangenheit diene.

Beide Beiträge berühren sich in ihrer Darstellung des Antifaschismus in der DDR als identitätsstiftender „Zivilreligion“ (Helmut Dubiel) und Loyalitätsfalle. Wolfgang Emmerich zeichnet am Beispiel bekannter DDR-Schriftsteller nach, wie der Anti-faschismus als ideologische Klammer bei zwei Autoren-generationen gewirkt hat, während Lothar Probst den sowohl bei Ost- als auch bei Westintellektuellen anzutreffenden Mythos vom „antifaschistischen Charakter“ der DDR problematisiert.

Wolfgang Emmerich